Allianz: Das Ende der Vertrauensarbeitszeit? Praktische Auswirkungen des Beschlusses des BAG vom 13.09.2022

I. Der Hintergrund

Mit einem Urteil aus dem Jahr 2019 hatte der EuGH deutlich die Richtung vorgegeben: Aus der Arbeitszeitrichtlinie in der Zusammenschau mit Art. 31 der Europäischen Grundrechtscharta (GRC) folgt die Pflicht der Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass die Arbeitgeber ein „objektives, verlässliches und zugängliches System einführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“; dies folgt aus dem Recht der Beschäftigten auf effektiven Gesundheitsschutz und auf Einhaltung der gesetzlich vorgegebenen (wöchentlichen und täglichen) Höchstarbeitszeiten. Allerdings hatte der EuGH den Mitgliedstaaten keine konkrete Frist gesetzt.

Über drei volle Jahre blieben die Vorgaben des EuGH mithin mit wenigen Ausnahmen, die wir im Anschluss länderspezifisch darstellen werden, ohne nennenswerte praktische Konsequenzen, wobei wohl allgemein davon ausgegangen wurde, dass zur praktischen Umsetzung des Urteils ein gesetzgeberischer Eingriff erforderlich sei; nun hat jedoch das deutsche Bundesarbeitsgericht den Ball direkt aufgenommen und auch ohne gesetzgeberische Maßnahmen konkrete Pflichten zulasten der Arbeitgeber direkt aus dem bestehenden Recht formuliert.

II. Die Aussagen des Bundesarbeitsgerichts

Ausgehend von den Feststellungen des EuGH zu Inhalt und Tragweite der GRC und der Arbeitszeitrichtlinie hat das Gericht das (u.a.) in Umsetzung der Arbeitsschutzrichtlinie ergangene Arbeitsschutzgesetz (Art. 3) dahingehend unionsrechtskonform ausgelegt, als der darin niedergelegten Pflicht zulasten der Arbeitgeber, die „erforderlichen“ Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Gesundheit der Beschäftigten auch eine Pflicht zu konkreten Erfassung der gesamten Arbeitszeit entnommen werden kann.

III. Die gemeinschaftsweite Bedeutung des Beschlusses

Zwar handelt es sich in concreto um einen rein deutschen Sachverhalt, die Bedeutung des Beschlusses dürfte jedoch auch in den anderen Mitgliedstaaten nicht zu unterschätzen sein, da der Ansatzpunkt, d.h. die unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts jeweils auf andere Länder übertragbar ist; dies umsomehr als es sich vorliegend um Rechtsnormen (konkret: das Arbeitsschutzgesetz) handelt, die in Umsetzung von Unionsrechtsakten (Arbeitsschutzricht-linie) erlassen wurden.

Was bedeuten die Aussagen des Bundesarbeitsgerichts nun konkret? Zunächst einmal ganz einfach, dass in der Tat sämtliche Mitarbeiterstunden zu erfassen sind, d.h. unabhängig von Art und Weise der Leistungserbringung oder des Leistungsortes und jedenfalls nicht nur die Überstunden. Anders gesagt, auch die Arbeitszeit im Homeoffice und im Außendienst, ist konkret zu erfassen. Ob auch leitende Angestellte oder auch die Geschäftsleitung davon erfasst sind, wird vermutlich in den einzelnen Rechtsordnungen davon abhängen, ob diese als jedenfalls arbeitnehmerähnlich oder aber eher organschaftlich eingestuft werden. In Deutschland sind leitende Angestellte nicht von den Regelungen des Arbeitszeitgesetzes umfasst; soweit in anderen Rechtsordnungen andere Regeln gelten, ist eine entsprechende Erstreckung auch auf leitende Angestellte durchaus denkbar, was angesichts des zumindest indirekten argumentativen Rückgriffs (auch) auf die GRC für künftige Entwicklungen nicht ausgeschlossen erscheint.

Was bedeutet dies nun für Modelle der Vertrauensarbeitszeit? Diese sind sicherlich nicht außer Kraft gesetzt; erforderlich ist jedoch, dass minutiös die konkrete Arbeitszeit (und nicht nur die Überstunden) erfasst wird, was in der Praxis nicht immer einfach mit den Zielsetzungen der eigenverantwortlichen Projektumsetzung in Einklang zu bringen sein wird.

IV. FAZIT

Selbstverständlich entfaltet der Beschluss keine direkte Wirkung außerhalb Deutschlands; die Argumentationsweise des BAG lässt sich jedoch sicherlich auch auf andere Rechtordnungen übertragen, sodass auch anderswo durchaus damit zu rechnen ist, dass angesichts der verbreiteten Untätigkeit der jeweiligen Gesetzgeber die Gerichte die Situation in die Hand nehmen und die durch den EuGH bereits 2019 formulierten Vorgaben direkt aus dem nationalen Recht (richtlinienkonform) ablesen. Es erscheint daher ratsam, dass sich die Unternehmen mithilfe entsprechender Rechtsberatung bereits im Vorfeld auf die neue Situation einstellen und proaktiv entsprechende Lösungsansätze erarbeiten. Nachfolgend geben wir einen Überblick über die bestehende Situation und einen etwaigen Anpassungsbedarf in den verschiedenen Ländern der Schindhelm-Allianz.



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Autor: Florian Bünger